Politisches Engagement
Man will es Jagoda Marinić nicht so recht abnehmen, wenn sie erzählt, sie habe das nicht kommen sehen: Dass sie einmal politische Reden halten würde. Dass sie bundesweit eingeladen wird, um über Diversity zu sprechen, über jene Willkommenskultur, die ihr in Deutschland so oft fehlt. Man will es ihr deswegen nicht so recht abnehmen, weil ihr Denken, ihre Arbeit auch schon in sehr jungen Jahren politisch waren. Weil sie mit einer Selbstverständlichkeit so energisch dafür eintritt, dass sich Dinge ändern in diesem Land, in dem sie geboren ist, dessen Sprache ihr Handwerkszeug ist, das aber auch sie als Deutsche mit Migrationshintergrund bezeichnet. Nicht als Deutsche.
Und ihre Arbeit passt so wunderbar dazu, als Autorin, als Schriftstellerin, als Journalistin: Denn sie weiß sehr genau, wie viel Macht Worte haben. Unsere Sprache, in der Menschen, die in Deutschland leben, auch die, die hier zur Welt gekommen sind, als Gäste bezeichnet werden, als Fremde, als Migranten. Worte, mit denen oft nur über sie statt mit ihnen gesprochen wird. Jagoda Marinić wird nicht müde darin, andere darauf aufmerksam zu machen. Etwa mit der Organisation eines Workshops am bundesweiten Diversity-Tag, bei dem es darum geht, das sperrige Wort „Migrationshintergrund“ zu hinterfragen. Am liebsten würde Jagoda Marinić es einfach abschaffen.
Wann aber wird die Autorin noch politischer, als sie ohnehin schon ist? Es beginnt im November 2011, einem rabenschwarzen Monat für all die, die sich ein vielfältiges Deutschland wünschen. Die Ausmaße der NSU-Mordserie kommen ans Licht, die Hintergründe der Taten, die die Medien lange als „Döner-Morde“ bezeichneten. Jagoda Marinić veröffentlicht in der Franfurter Rundschau einen großen Artikel, in dem sie nach dem Schweigen fragt, nach der Selbstzensur all jener, die in diese Richtung gedacht, aber nicht gefragt haben. Woher das Schweigen? Wo sind die Stimmen? Sind es nur die Reaktionen, und was geschieht schon in den Köpfen? Jagoda Marinić wird daraufhin eingeladen, bei einer Tagung in Nürnberg eine Rede zu halten. Die Veranstalter, unter anderem ProAsyl, finden ihre Worte so klug, dass sie die Rede gemeinsam mit der Autorin als e-Book veröffentlichen. Der Titel: „Rassismus sichtbar machen“. Autor und Journalist Heribert Prantl steuert ein Vorwort bei. Jagoda Marinić stößt in ihrer Rede neue Gedanken an, hinterfragt vieles. Auch, warum Kleinunternehmer die Opfer der Neonazis geworden sind. Menschen, die sich nicht mehr diskriminieren lassen wollten, sich selbst aus ihrer Opferrolle befreit hatten. Und – so Jagoda Marinićs These – deswegen systematisch wieder zu Opfern gemacht wurden.
Jagoda Marinić ist eine mutige Vordenkerin, die sich einmischt und die nicht davor zurückschreckt, die Mächtigen zu kritisieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel etwa, die die NSU-Morde bei der staatlichen Gedenkstunde für die Opfer als „beschämend für Deutschland“ bezeichnet. „Worauf bezieht sich die Scham?“, fragt Jagoda Marinić empört. Darauf, dass so etwas jahrelang unentdeckt geschehen kann? Oder darauf, wie Deutschland nun vor der Welt dasteht? „Eine zornige Rede wie die der deutsch-kroatischen Schriftstellerin Jagoda Marinić hat bei der Gedenkstunde im Februar 2012 gefehlt“, schreibt Heribert Prantl in seinem Vorwort.
Auch die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts treibt Jagoda Marinić um. Sie verfasst im Frühjahr 2014 einen offenen Brief an den SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel, der in der Berliner Zeitung erscheint. Einen Brief an den Chef der Partei, die ihr Vater, der Einwanderer, zwar nie wählen durfte, „aber von der er doch so sprach als sei es seine Partei“. Die von der Großen Koalition als Erfolg gefeierte Reform der Doppelpass-Regelung sei „das Mindeste“, schimpft Jagoda Marinić. Und das Ende einer jahrzehntelangen beschämenden Verneinungspolitik, die junge Deutsche eines Heimatgefühls beraube. Und nichtsdestotrotz – man sieht die Autorin in Gedanken den Kopf schütteln – „fragt man uns, warum wir es uns so schwer machen mit der Heimat“.
Im Sommer 2014 steht in der Rhein-Neckar-Zeitung, der Heidelberger Tageszeitung, dass Jagoda Marinić binnen zwei Jahren die Stadt verändert hat. Ein großes Kompliment für einen einzigen Menschen in einer Stadt mit knapp 150.000 Einwohnern. Jagoda Marinić baut dort als Leiterin das Interkulturelle Zentrum auf, vernetzt Menschen, ist Ansprechpartner für die, die in der Stadt ankommen. Sie habe geschafft, was zuvor über Jahrzehnte niemandem gelungen sei, schreibt der Autor: die kulturelle Vielfalt zu einem wichtigen politischen Thema in Heidelberg zu machen. Jagoda Marinić setzt sich ein – mit ihrer Stimme, mit ihren Worten, mit ihren Texten. Und mit Erfolg. Dafür, dass die Menschen es nicht mehr so schwer haben – mit diesem Land, mit dieser Heimat.